09.04.2024 Pressemitteilung - Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Was das Insekt nicht kennt, das frisst es nicht. Im Zuge von Klimawandelanpassungen müssen auch einheimische Baumarten genutzt werden, um das fortschreitende Insektensterben zu bremsen
Senckenberg-Forschende zeigen in Kooperation mit weiteren Wissenschaftlern, dass mehrere Tausend einheimische Insektenarten in Deutschland von einheimischen Gehölzen abhängen. Allerdings werden in der Bundesrepublik im Zusammenhang mit Anpassungen an den Klimawandel zunehmend gebietsfremde Baumarten gepflanzt. Das Forschungsteam weist darauf hin, dass die Verwendung einheimischer Baumarten unabdingbar ist, um dem Rückgang einheimischer Insektenarten zu begegnen. In Deutschland gebietsfremde Gehölzarten sind umso weniger für die Erhaltung der Insektenvielfalt geeignet, je weiter entfernt ihr Ursprungsgebiet liegt und ihre verwandtschaftlichen Beziehungen zu einheimischen Baumarten sind. Die Ergebnisse wurden in der Aprilausgabe der Zeitschrift des Bundesamtes für Naturschutz „Natur und Landschaft“ veröffentlicht.
Blatt- und Rüsselkäfer, Wildbienen, Pflanzenwespen, Schmetterlinge, Wanzen und Zikaden – viele Insekten ernähren sich von verschiedenen Teilen holziger Pflanzen und sind für die Ökosysteme auch als Nahrung für andere Tierarten unersetzlich. „In den letzten Jahren konzentrierten sich Insektenschutzmaßnahmen überwiegend auf die Anlage von Blühflächen und die Vermeidung von Lichtverschmutzung, dabei spielen Gehölze eine herausragende Rolle für die Erhaltung der einheimischen Insektenfauna und müssen in die Betrachtungen zum Schutz der Insekten mit einbezogen werden“, erklärt Dr. Matthias Nuß von den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen in Dresden.
Nuß hat gemeinsam mit seinem Kollegen und Erstautor der Studie Dr. Sebastian Schuch und weiteren Forschenden aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in einer Literaturanalyse tausende einheimische Insektenarten betrachtet, die in mindestens einem Entwicklungsstadium Gehölze als Nahrungspflanze nutzen. In ihre Analyse flossen die Daten von etwa 74 Prozent aller in Deutschland einheimischen pflanzenfressenden Insektenarten ein. „Wir zeigen, dass von den insgesamt 8.127 betrachteten Blattkäfern, Prachtkäfern, Rüsselkäfern, Pflanzenwespen, Schmetterlingen, Wanzen, Wildbienen und Zikaden 3.140 Arten in mindestens einem Entwicklungsstadium auf Gehölze als Nahrungspflanzen angewiesen sind“, legt Schuch die Ergebnisse dar und ergänzt: „Berücksichtigt man, dass sich die Insektenfauna an Gehölzen nur zu einem Teil aus pflanzenfressenden Insekten zusammensetzt und dort zusätzlich auch Insektenarten leben, die sich von anderen Insekten, Pilzen, Algen, Flechten, Moosen oder toter organischer Substanz ernähren, ist die Anzahl der insgesamt an Gehölzen vorkommenden Insektenarten sogar noch erheblich höher. Nach unseren Erkenntnissen sind etwa ein Drittel der über 33.000 Insektenarten Deutschlands direkt oder indirekt in mindestens einem Lebensstadium von Gehölzen abhängig!“
Gebietsfremde Gehölze wurden schon in der Vergangenheit in der Forstwirtschaft und im Siedlungsraum genutzt. Im Zuge des globalen Klimawandels werden sie zunehmend empfohlen und gepflanzt, da man davon ausgeht, dass sie widerstandsfähiger gegenüber steigenden Temperaturen und zunehmender Trockenheit sind. „Für die einheimische Insektenwelt ist ein Umsatteln auf gebietsfremde Baumarten in der Forstwirtschaft und im Siedlungsraum aber fatal!“, so Nuß und weiter: „Unsere Ergebnisse zeigen, dass gebietsfremde Gehölze nur von einem sehr kleinen Teil der einheimischen Insektenarten als Nahrung genutzt werden können.“
Insgesamt sind von den auf Gehölze angewiesenen Insektenarten knapp 89 Prozent auf Gehölzgattungen zu finden, die mit mindestens einer einheimischen Art in Deutschland vertreten sind. 10 Prozent der betrachteten Insektenarten nutzen sowohl Gattungen mit mindestens einer einheimischen Gehölzart als auch Gattungen, die in Deutschland nur mit gebietsfremden Arten vertreten sind. Nur 1,4 Prozent ernähren sich ausschließlich an Gehölzgattungen, die in Deutschland nur mit gebietsfremden Arten vertreten sind. „Bei Letzteren handelt es sich um eingeschleppte Insektenarten oder solche mit einem sehr breiten Nahrungsspektrum an Pflanzen ganz unterschiedlicher Verwandtschaftsgruppen – diese Tiere spielen für die Erhaltung der einheimischen Insektenvielfalt nur eine untergeordnete Rolle“, fügt Schuch hinzu.
Das Forschungsteam empfiehlt aufgrund seiner Analyse daher einheimische Baumarten und deren genetische Variabilität bevorzugt zu nutzen. „Es gibt Studien, die zeigen, dass beispielsweise verschiedene Individuen der Rotbuche – Fagus sylvatica – innerhalb eines Bestands unterschiedlich auf Trockenstress reagieren und dass diesem Phänomen eine genotypische Variabilität zugrunde liegt. Bei der Auswahl geeigneter Gehölze zur Klimawandelanpassung sollte deshalb die vorhandene genetische Variabilität einheimischer Arten eine viel größere Rolle spielen“, erläutert Nuß.
Sollten gebietsfremde Gehölzarten in Betracht gezogen werden, dann seien Arten aus Gattungen mit weiteren in Deutschland einheimischen Gehölzarten zu bevorzugen, so die Forschenden. Diese gebietsfremden Arten sollten den einheimischen Arten stammesgeschichtlich nahestehen und zudem aus geographisch nahegelegenen Regionen stammen, damit sie für einen möglichst großen Teil der einheimischen Insektenarten als Nahrungspflanzen dienen können. Nuß ergänzt: „Hitze- und trockenheitsresistentere Gehölzarten lassen sich nicht nur auf anderen Kontinenten, sondern auch in Süd- oder Südosteuropa finden.“
„Festzuhalten ist: Die Förderung der einheimischen Baumartenvielfalt im Siedlungsraum und in der Forstwirtschaft ist von großer Bedeutung für pflanzenfressende Insekten. Gebietsfremde Gehölzarten aus Gattungen, die mit keinen einheimischen Arten in Deutschland vertreten sind, sind für die Erhaltung der einheimischen Insektenvielfalt weitestgehend ungeeignet. Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel sollten deshalb zusammen mit Maßnahmen zur Bewahrung der Biodiversität konzipiert und umgesetzt werden“, schließt Schuch.
09.04.2024 Pressemitteilung - Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
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